W. Christian Schmitt

Was mir auffiel, was mir zufiel, was mir einfiel

Erster Versuch einer Rückschau in eigener Sache

Aus der von Ekkehart Rudolph herausgegebenen Anthologie “Satz-Zeichen” (1988, Morstadt Verlag, Kehl)

Vielleicht ist es für (m)eine Bestandsaufnahme dieser Art eh noch viel zu früh. Andererseits: Trägt nicht (nahezu) jeder Artikel, jedes Interview, jede Reportage, jeder Werkstattbericht und auch jeder Essay dazu bei, den Standort des Verfassers neu oder neuerlich zu bestimmen? Und vollzieht sich dies bei Journalisten nicht quasi öffentlich? Mal für Mal?

Über das (selbst gewählte) Thema “Was mir auffiel, was mir zufiel, was mir einfiel” soll hier gesprochen, geschrieben werden. Doch schon gibt es die erste Schwelle zu überschreiten. Da muss die Rede sein von der Schwierigkeit, über sich selbst zu schreiben. Anders als Schriftsteller scheuen Journalisten nämlich (zumeist) die eigene Nabelschau, zucken zurück, wenn plötzlich in einem Artikel das Wörtchen “ich” auftaucht. Ich zumindest gehöre zu jenen. Mir hat man dies während meiner Volontärszeit beigebracht oder (nahezu) ausgetrieben. Ganz nach Belieben des Betrachters, Außenstehenden, Lesers.

Er, der Artikelkonsument, ist überhaupt der Wichtigste in jenem Lebens-Darstellungsspiel, das sich Journalismus nennt. Für ihn quält, schindet, müht sich der Journalist. Ihn hofft er zu informieren, zu unterhalten, vielleicht aufzuklären, zu überzeugen, gelegentlich auch bewusst zu beeinflussen, zumindest zu erreichen. Deshalb wohl hängt in meinem Arbeitszimmer auch der gerahmte, mahnende Spruch “Quatsch nicht so dämlich!”, versehen mit dem Zusatz “Die Zeit drängt”. Zwischen diesen beiden Aufforderungen (oder sind es Herausforderungen?) spielt sich (m)eine journalistische Arbeit, mein Alltag, mein Leben ab, dem manche – sicher wohlwollend – gelegentlich noch das Attribut “schriftstellerisch” anhängen.

Woher das rührt? Vielleicht kommt es daher, dass ich schon frühzeitig mich auf die Bereiche Literatur und Buchmarkt eingelassen, spezialisiert habe. Dass im Laufe der Jahre und Arbeit Gespräche mit vielleicht 250 oder mehr Autoren geführt worden sind und dass ich dabei immer den Menschen, die Person hinter dem Buch, hinter dem Image, dem Ereignis, der Fassade, gesucht und zumeist auch gefunden habe. Einiges von dem, was mir dabei klar geworden ist (und vielleicht auch dem interessierten Leser), kann nachgelesen werden in den Sammlungen “Die Buchstaben-Millionäre” (erschienen im v. Loeper Verlag) und “Die Auflagen-Millionäre” (Gauke Verlag).

Was häuft sich da eigentlich alles an Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen, wenn ein Journalist mit einem Schriftsteller zusammentrifft? Wenn der eine von dem anderen Kenntnis nimmt und diese Neugier möglicherweise multiplizieren möchte? Mit welch einer Vielzahl von Fakten, bereits geäußerten Meinungen anderer reist man an, bereitet sich vor auf eine Begegnung, deren Verlauf keiner voraussagen kann. Und die doch – oder überschätzen wir uns da alle immer mal wieder? – für den betreffenden Autor, zumal wenn er jung ist oder in einer Schreibkrise stecken mag, von so entscheidender Bedeutung sein kann. Wie schwierig es ist, über Menschen und deren Schicksale, deren Entwicklungen, Lebenswege zu schreiben, wurde und wird mir immer wieder bewusst, wenn ich in meiner Redaktionsstube am Schreibpult stehe. Wenn die notierten Eindrücke von gestern und vorgestern, wenn die Beobachtungen, wenn die Schlussfolgerungen zu einem Artikel werden sollen. Werden müssen. Welche vermeintliche Macht wächst einem da kurzzeitig zu, wenn man darüber mitentscheiden kann, darf, soll, muss, welches Bild sich Teile der Öffentlichkeit von diesem Autor oder dieser Autorin machen werden. Einerseits ist es gerade der persönliche Eindruck, der, an die Leser weitervermittelt, den besuchten, gesprochenen, vorzustellenden Schriftsteller greifbar werden lässt. Andererseits ist es jene Befangenheit, jene Subjektivität – im positiven wie im negativen Sinne –, die für mich wie für den präsentierten Zeitgenossen zur Fußangel werden kann. Noch gar nicht berücksichtigt, was überdies noch Einfluss auf den Artikel haben kann, so wie ihn dann der Leser vorgesetzt bekommt. Da ist der den Beitrag bearbeitende Redakteur. Er hat ein vielleicht bestelltes, vielleicht unverlangt eingesandtes Manuskript vor sich. Er hat Zeit- und er hat Platzprobleme. Und für all die sprachlichen Feinheiten, mühsam abwägend von mir eingebaut, hat er keine Ader, keinen Sinn. Er redigiert. Was sein Beruf ist. Er kürzt, er formuliert um, er macht – oft nicht ohne Stolz und irgendwo zumindest nachvollziehbar – meinen Text zu seinem Text: Er will sich mit ihm identifizieren, ihn vertreten können. Da heißt es: Ruhe bewahren, abwägen und – wenn überhaupt – geduldvoll reagieren. Und dies nur dann, wenn die Korrekturen des Redakteurs gravierende “Verschlimmbesserungen” zur Folge haben.

Aber generell sind Kürzungen am vorliegenden Text nichts Ehrenrühriges. Sie müssen weder an die Substanz des Textes noch des Verfassers gehen. Hin und wieder tragen erst sie in der Tat nicht Unmaßgebliches zur (noch) besseren Lesbarkeit eines Artikels bei. Georg Hensel, damals noch Feuilletonchef des "Darmstädter Echo", wies mich im Laufe meiner Ausbildung auf all die Fehler, Macken und Mätzchen hin, die ein (angehender) Redakteur sich besser schon frühzeitig (wieder) abgewöhnen sollte. Eine der ersten Hensel-Lektionen: Er schnitt in der Anfangszeit grundsätzlich immer den ersten Absatz meiner Artikel weg, weil der ohnehin "nur zum Warmschreiben" benötigt werde. Überhaupt vertrat er die erst auf den zweiten Blick einleuchtende These: Die wichtigsten Utensilien eines Redakteurs seien Schere, Klebstoff und der Filzstift. Und recht hatte er. Zumindest damals, als der Bleisatz noch dominierte (und allabendlich der Klebe-Umbruch anstand und – ich – in der Mettage zu bestehen hatte), bei dem in der Tat die Schere – nicht die im Kopf – zum wichtigsten Werkzeug wurde.

Später habe ich gelernt, die ersten Absätze im Kopfe ablaufen zu lassen und erst mit dem zweiten meinen Artikel zu beginnen. Und noch etwas Wesentliches hat mir dieser Lehrmeister beigebracht, den viele nur als den Theaterkritiker und nicht als Zeitungsmacher kennen. "siw", so mein damaliges Kürzel, sagte er gelegentlich sinngemäß, seien Sie vorsichtig mit Verrissen, auch wenn sie zu schreiben oftmals so einfach aussieht. Dennoch: Wie oft bin ich als Volontär (und auch später noch) anderen mit (m)einer frechkurz angebundenen Schreibe auf den Schlips getreten? Erst im Laufe der Jahre, nach Stationen im Feuilleton der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung", als Blattmacher bei "Buchreport" und in der Chefredaktion vom "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel", habe ich begriffen, was Verrisse bewirken können, wie sie jene treffen, die sich nicht wehren können. Durch welche nebensächlich-unwichtigen Anlässe sie oftmals zustande kommen. Vielleicht haben auch Kritiken an meinen eigenen Büchern zu dieser anderen Sicht der Dinge beigetragen.

Und vielleicht ist dies der eigentliche Grund, warum ich keine (vordergründigen) Buch-, keine Film- und auch keine Showkritiken mehr schreibe, mich zunehmend nur noch die Menschen hinter Büchern oder Ereignissen interessieren. Und nicht deren allerneuestes Werk, das morgen schon wieder Schnee von gestern sein kann. Ich will sie im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, anfassen, mit ihnen reden, von ihren gelebten Erfahrungen profitieren und dies – was zu meinem Lebensunterhalt beiträgt – in Form von journalistischen Beiträgen an die Leser weitergeben. Doch schon oft waren Begegnungen mit Schriftstellern, mit Mitmenschen so ertragreich, dass ich mir bereits auf halbem Heimweg die Frage gestellt habe: Warum darüber jetzt auch noch einen Artikel schreiben?

Aber gelegentlich scheint es nicht das Wollen oder Müssen, sondern einfach nur das Können. Wieso kommt keine einzige vernünftige Zeile mehr zustande? Kein Anfang will gelingen, kein roter Faden ist im Kopfe, und an die Schlusspointe ist schon gar nicht zu denken. Es ist die Angst vor dem weißen Blatt, von der nicht nur Schriftsteller zu berichten wissen. Andererseits: Wenn man sich in dieser Weise auf Menschen einlässt, kann, wird es an Themen, an Ideen nie mangeln. Mache ich mir dann selbst Mut. Arrogant mag klingen, dass Autoren, Menschen, zu denen ich keinen “Draht” finde, kein Berichterstattungsgegenstand sind. Zumindest für mich nicht (mehr). Das weiß man in der Regel freilich erst hinterher. Nachdem man Ulla Hahn in der Villa Massimo in Rom besucht hat, Ernst Jandl in Wien, Dieter Wellershoff in Köln, Sandra Paretti in Zürich, Hans Hellmut Kirst in München, Leonie Ossowski in Berlin, Heike Doutiné in Hamburg oder, oder. Fast immer konnte ich mich auf mein Gefühl verlassen. Und bis auf zwei Ausnahmen sind aus all den Begegnungen auch Geschichten, Ereignisprotokolle, Interviews, Werkstattberichte geworden.

Zwischen Eitelkeiten und Verletzlichkeiten hat sich der Journalist seinen Weg zu seinem Gesprächspartner zu bahnen. Mag sein, dass manche diesen Weg als zu mühsam ansehen. Wo Leichteres gerade im Journalismus möglich ist. Aber dann sind es eben doch die Erfolgserlebnisse, die kleinen, die hoffen lassen, der eingeschlagene Weg werde wohl schon der richtige sein. Kann man es einem Leser überhaupt halbwegs erklären, dieses “jungfräuliche” Gefühl? Zum Beispiel damals, als “Die Zeit” eine erste, wenn auch kurze Buchbesprechung aus meiner Feder druckte. Vor mehr als 15 Jahren? Oder als “Die Weltwoche” ein Interview veröffentlichte, das ich mit Ulrich Plenzdorf geführt hatte, und die “Neue Osnabrücker Zeitung” mein Gespräch mit DDR-Schriftsteller-Chef Hermann Kant?

Heute ist vieles Alltag. Ob Belege von der “Rheinischen Post”, der “WAZ”, der “Badischen Zeitung” oder den “Lübecker Nachrichten” auf den Schreibtisch kommen – die fast noch kindliche Freude der frühen Jahre, sie scheint dahin. Vielleicht schwindet diese Fähigkeit, sich zu freuen, tatsächlich mit der zunehmenden Zahl der Berufsjahre. Und da nähere ich mich den 25. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass mir manches zu schnell in den Schoß gefallen ist. Dass eine Veröffentlichung die nächste zur Folge hatte, dass ein Autorenkontakt schon das Entree für den nächsten war? Manchmal – ist das auch ein Zeichen zunehmenden Alters? – blättere ich in alten Belegmappen und bin selbst überrascht, irritiert, in welchen Blättern ich über welche Themen schon geschrieben habe. Seitdem ich selbständig bin, und dies ist seit 1978 der Fall, zwinge ich mich zur Ordnung. Und deshalb fällt es nicht schwer festzustellen, dass ich in all den Jahren tatsächlich für 72 Zeitungen und Zeitschriften sowie Rundfunkanstalten Beiträge geliefert habe. “Exotisches” ist darunter, manche Blätter wie etwa “underground” oder “Bücherkommentare” oder der Berliner “Abend” sind längst von der Bildfläche verschwunden. Anderen wie etwa “Tribuna Tedesca”, “El Libro Espanol”, “The German Tribune” oder “La Tribune D’Allemagne” begegne ich kaum noch, denn wer liest schon Italienisch, Spanisch, Englisch oder Französisch regelmäßig? Hierzulande.

Wie bereiten Sie sich vor auf ein Gespräch, eine Begegnung, werde ich oft gefragt. Oder genauer: Haben Sie sich entsprechend vorbereitet, alle ihre, seine, meine Bücher gelesen? Wie ich mich vorbereite? Von Mal zu Mal weniger. Bei meinen ersten Autorengesprächen meinte ich, jede Zeile von und über meinen Gesprächspartner vorab gelesen haben zu müssen, um die “richtigen” Fragen stellen zu können. Mittlerweile habe ich begriffen, dass man “falsche” Fragen überhaupt nicht stellen kann. Vielleicht zu indiskrete, vielleicht solche, die meine offenkundigen Informations- (oder Bildungs-?) Lücken sichtbar werden lassen. Aber wer hat da keine? Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, dass allzu viel Vorauswissen mich nur belastet. Stark vereinfacht ausgedrückt: Was soll ich einen Autor, Mitmenschen noch fragen, wenn ich schon alles über ihn weiß, bevor er auch nur eine Antwort gegeben hat? Fragen müssen aus der Situation heraus entstehen. Und vielleicht ist es (für mich) viel ergiebiger, wenn man die meiste Zeit des Gesprächs nutzt, um über gemeinsame Marotten sich zu unterhalten, über Vorlieben, Erlebtes wie Erduldetes, weniger über das, was Literaturkritiker zu diesem und jenem bereits angemerkt haben. Sicher, es gibt etliche andere Kollegen, die bereiten sich auf Begegnungen mit Schriftstellern wie auf Semesterarbeiten vor. Und leider ist das Ergebnis dann oft auch entsprechend. Dann werden – als “Interview” deklariert – Dialoge publiziert, bei denen der Leser nur staunender oder erschrockener, meist gelangweilter Zaungast bleibt. Für mich sind Autoren Menschen wie du und ich, deren Stärken und Schwächen ich erkennen, von denen ich lernen möchte. Den Ehrgeiz habe ich nicht, meinen Gesprächspartnern durch oder mit Belesenheit zu imponieren.

Da ich kein Nachrichtenredakteur bin, gibt (fast) jeder Artikel, der meine Schreibmaschine (und seit einiger Zeit meinen PC) verlässt, auch ein Stück preis von mir. Wenn Freunde, Bekannte, aber gelegentlich ebenso mir bis dahin nicht persönlich bekannte Leser sagen, sie hätten bereits nach dem ersten Absatz gemerkt, dass dieser Artikel von mir sein müsse, dann spüre ich wieder einen Anflug jener Verlegenheit, die sich bei solchen und anderen Anlässen früher nahezu regelmäßig eingestellt hat. Doch heute stimmt mich so etwas auch nachdenklich. Ich versuche, mir klar zu werden über mich und meine Arbeit. Und ich lasse mich auf Beiträge ein wie diesen, der nicht von ungefähr den Titel trägt “Was mir auffiel, was mir zufiel, was mir einfiel”. Und der nicht mehr, aber auch nicht weniger sein soll, als der erste Versuch einer Rückschau in eigener Sache. Manch anderes bleibt noch zu überdenken, niederzuschreiben. Ein andermal.