W. Christian Schmitt
Aus dem Buch “Nachdenkliches von Vordenkern” (1995, Bastei-Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach).
Reichelsheim/Odenwald, im Juli 1995. Politikverdrossenheit, Werteverfall, Selbstbedienungsmentalität, Auflösungserscheinungen innerhalb dieser einst fest gefügt erscheinenden Demokratie. Nur Schlagworte oder Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft im Umbruch?
Seit die früher gängigen Diskussions-/Diskursmuster wie etwa Sozialismus gut/Kapitalismus schlecht, friedliebende Menschen im Ostblock/Revanchisten und Faschisten im Westen, reiche BRD/arme dritte Welt in dieser verkürzten, vereinfachenden Form nicht mehr greifen, zeigt sich vielerorts Ratlosigkeit. Vor allem bei jenen, die gestern noch als quasi-moralische Institutionen galten – bei den Vordenkern, den Propheten einer besseren, gerechteren Zukunft.
Bei den “Frankfurter Historik-Vorlesungen” ging es unlängst ernsthaft u.a. auch um die Frage: “Warum retten uns die Intellektuellen nicht?” Doch könnten sie es überhaupt, wenn sie es wollten?
In einer Phase drohender Resignation, des Abschiednehmens von Illusionen, aber auch der möglichen, notwendigen Neubesinnung erscheint eine Zwischenbilanz überfällig. Was haben die Galionsfiguren unserer Kultur, die Mitgestalter öffentlichen Lebens und Bewusstseins gestern und vorgestern (noch) verkündet? Wie maßgeblich waren, sind deren persönliche Einschätzungen? Wo haben diese im Scheinwerferlicht stehenden Wort- und Ideenproduzenten sich selbst und ihre Anhängerschaft möglicherweise getäuscht? Wo gab es fundamentale Irrtümer?
Fragen stellen und zuhören können – das steht am Anfang aller Neugier. Und bei Journalisten quasi von Berufs wegen. Das Ergebnis sind Antworten. Zutreffende, erhoffte, befürchtete, nachdenklich stimmende. Manchmal gar Bekenntnisse. Die Weitergabe von Erfahrenem und von Erfahrungen, Orientierungshilfen für Alltag, Beruf oder Lebensplanung. Im optimalen Fall konzentriert, destilliert, verwendbar für eigene Problemlösungen. Zumal, wenn es sich bei den Befragten um so genannte Vordenker handelt. Deren Meinung zu Staat und Kultur, zu Gesellschaft und Kirche, zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist der Diskussion wert.
Der Interview-Band "Nachdenkliches von Vordenkern" sammelt mehr als 120 Gespräche mit Schriftstellern, Intellektuellen, Meinungsbildnern. Sie wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten geführt und fanden – in Langfassung – bereits als Zeitungsbeiträge Leser. Für diese Zwischenbilanz sind die seinerzeit von den Gesprächspartnern autorisierten Interviews gekürzt, nicht aber nachträglich aktualisiert worden. Vielleicht geben diese "Dokumente" mit Zeitbezug u.a. manchem auch Antworten auf die Frage, warum nicht nur Politiker immer weniger in der Lage scheinen zu verstehen, was Bürger in diesem Lande tatsächlich bewegt.