W. Christian Schmitt

Schriftsteller, beobachtet

Aus der von Fritz Deppert und Wolfgang Weyrauch herausgegebenen Anthologie “Von Darmstadt nach Darmstadt” (1972, Lichtenberg-Buchhandlung und Verlag Baldur Bäcker, Darmstadt).

Es ist 10 Minuten vor 8 und ungemütlich; kalt ist es an diesem Abend in Darmstadt. Leicht, fast unauffällig, unscheinbar geht ein Mann mit schwarzem Kapuzenmantel die Kirchstraße in Richtung Schloss. Seine Nase, seine Wangen – leicht gerötet. Er bleibt stehen vor Geschäften, besieht sich die Auslagen: Schuhe, Backwaren, Porzellan, Kleider. Der Mann, dem eine knappe halbe Stunde später Leute Begrüßungsbeifall geben, kommt aus Österreich. Neununddreißig ist er und wohnt in Ohlsdorf. Keine Spur Anheimelndes vermag diese Abendluft zu versprechen; es ist frostig, ungemütlich – es ist Bernhard-Wetter.

Thomas Bernhard, “Diagnostiker verschiedener Arten zu sterben”, wie er einmal genannt wurde, ist nicht fremd in dieser Stadt. Einiges vor halb Neun. Justus-Liebig-Haus. Das Trubelfliehen ist vorbei. Thomas Bernhard, in Holland geborener Österreicher, mit Vorliebe, nicht für “Wiener Walzer, sondern für erstickende Tiroler Totentänze”, er liest mit Ruhe in der Stimme, ein wenig rau, als wolle er sich doch hinter ihr zurückziehen. Dunkel, schlicht, fast schon uneinprägbar ist der Anzug. Der Binder? Fragen Sie mich nicht nach der Farbe, er ist unauffällig, wie vieles an diesem Bernhard. Er steht am Stehpult. Er liest die Geschichte “Zwei Erzieher”: Unlust... Wahrheit... Lüge... Zerstören... Wahnsinn... Schlaflosigkeit... Sinnlosigkeit... Albträume... Visionen... An Gesprächsstoff mangelt es nicht. Es sind die sezierenden Berichte eines brillanten Gerichtsreporters. Bernhard liest rasch. Rasch verrinnen Text, Geschichte, Zeit, Leben. Bernhard spielt seine Texte, er erfüllt sie erneut mit all jener Trostlosigkeit, die er beim Schreiben schon einmal fixierte. Seine Stirn ist hoch, seine Nase groß. Einsam und verloren ist das Individuum nicht nur in dieser “Studie übers Theater”. Mit einem Stück aus seinem Roman “Das Kalkwerk” steigert er die Beklemmung. In einem Exzess indirekter Rede zerdrückt und offenlegt Bernhard alles, was mittels Konvention von menschlich bis Wahnsinn festgelegt worden ist. Es ist ein Plädoyer für die Vergänglichkeit, die Sinnlosigkeit. Mit einem Lächeln geht Bernhard ab. Abendwind kann nicht frostiger sein.

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Name: Helga M. Novak. Jahrgang 1935. Geburtsort Berlin. War zu Hause in der DDR. Studium? Ja, Philosophie und Journalistik. Ihr Pulli ist grün. Heirat nach Island. Arbeiten in einer Radio-, einer Fischfabrik, einer Teppichweberei und als Buchhändlerin. Sie züngelt an einer Zigarette. Helga M. Novak liest in Darmstadt. In Frankfurt wohnt sie. In Westend. Sie lebt unter Kleinbürgern, Studenten, Gastarbeitern. Sie schreibt sozialkritisch. Das Bier rechter Hand hat eine Blume. Die ist bald weg. Die Novak ist emanzipiert, von der Richtigkeit ihrer Thesen überzeugt. Es ist fast häuslich. Sie trägt ihre Texte vor. Es hat den Anschein, als seien sie das Resultat ergiebiger Diskussionen. Indem sie diese Prosa, diese Collage einer Sozialreportage liest, trennt sie den Hörer von der jeweiligen Ausgangssituation. Folge: Da sind plötzlich Sätze da, richtig, folgerichtig, wohlplatziert für die Novak, aber trocken, versachlicht, nur widerwillig zugänglich für den Hörer. Einer durchbrochen gewirkten Grundgeschichte werden Reminiszenzen unterlegt, Gesetzestext-Passagen, Ausführungsbestimmungen, bürokratische Definitionen, Absätze aus dem Alten Testament eingeleimt.

Helga M. Novak trägt Stiefelchen. Im Westen der Stadt sei es am dreckigsten, im Osten jener Stadt am billigsten, erfährt man aus der Geschichte. Es ist zu erfahren, wer alles zu was auch immer etwas sagte in diesem Text. Auch die Novak hat damit etwas zu sagen. Die Blume ist weg. Das Bier steht ab. Rosige Blumen sind noch da. Ein neuer Zündelversuch. Baff! Da dreht eine den Gashahn auf, in der Geschichte.

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Langes Haar, brünett, gestiefelt, gespornt, liest sie, Bluse, Hose schwarz, Lidstrich schwarz, weanerisch, anheimelnde Revolution: Elfriede Jelinek hat unter anderem Orgel, Klavier, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft studiert; in der Steiermark 1946 geboren, in Wien aufgewachsen, in ihrer Heimat mit Lyrik- und Prosa-Preisen ausgezeichnet, in der Bundesrepublik zuerst von Rowohlt mit dem Buch “wir sind Lockvögel, Baby!” vorgestellt. – Sie sagt: “Ich lese einfach ein paar Sätze.” Sie liest aus einem Hörspiel und hernach einen amerikanischen Test für Angestellte, keinen literarischen Text, sondern etwas Authentisches, Dokumentarisches. Die Charmanteste, die Hübscheste, die Beste liest: “... Haken glasklar, Tritte in den Unterleib... jetzt wird das Grab ausgehoben... aus der Küche wird das spitze lange Messer geholt... die Kugel steckt schon im Lauf” – hier ein Schnittchen, da ein Schüsschen; Sezieren, Zersägen, Durchlöchern, Häckseln – nur latente Grausamkeiten, serviert zwischen Keks und Bier, im Sessel oder in der Kuschelecke, tagtäglich, nur in wechselnder Verpackung.

“Ich lese einfach ein paar Sätze”, sagt die Jelinek. Eingehend wir Zigarettenwerbung ist das. Sie zerlegt, schneidet auf, geht mit den Sätzen bis auf den Knochen der Probleme.

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A. kommt vor Brechbühl. Und Johnson wird nicht Schonsen ausgesprochen. Artmann passt zu seiner grünen Samtjacke; Brechbühl wirkt etwas schulbubenhaft, als sei er gekommen, um Artmann und Johnson zu hören. Johnson ist kahlschlägig, doppelköpfig, GI-Haft. H. C. Artmann kommt locker-leicht, verpasst seiner Joppe einen gelben Tupfer vom Blumenbukett.

Beat Brechbühl hat mit "Kneuss" auf den Beinen schon Platz genommen. Uwe Johnson kommt gängig als Letzter in blauem Anzug und hellerem Hemd mit Buttondown-Kragen und dunklerem Binder. Es wird üblich.

Als Hans Carl Artmann, der sich herrlich ausnimmt vor buntem Blumengebinde, am Vorlesetisch Platz genommen hat, mit “ich habe heute etwas Grippe” entschuldigend beginnt, weiß man schon allerlei über ihn. Dass er “ganz und gar ein Art-Mann, ein Kunst-Mann ist”, der vielleicht 1921 oder 1922 oder gar 1924 geboren ist. Und man ist vorbereitet auf “proletarischen Slang und Nasal-tschechisch böhmischer Handwerker”. Man wird ungeduldig. Liest er nun aus seiner ironischen Kostbarkeit “Frankenstein in Sussex”? Doch Artmann greift weiter zurück, bringt leicht Angegilbtes, zunächst. Das liest er fast singend, nicht ohne Beschwörung. Und er beginnt einzudringen in Buch und Leser, so wie Vatis eindringen in Klein-Ernas Herz, wenn es Zeit wird, vom Sandmännchen und seinen Gehilfen zu erzählen. Satz für Satz gibt Artmann ab. Er wird leichter, schwebender, und er streift sich mit der Rechten über den Schnauzbart. Als es Artmann wärmer wird, öffnet er den zweiten Hemdknopf und liest “Auftritt eines Rowdys”. “Das ist ja ein irrer Typ”, sagt meine Nachbarin; aber da tänzelt Artmann schon die Stiegen herab, und Brechbühl ist auf dem Weg nach oben.

Das ist jener Beat B., den Schriftsetzer rasch zu einer Beate gekürt haben, den Nichtschweizer gern als “biit” aussprechen. Da liest er einen Ausschnitt aus seinem Roman “Kneuss”. Seine Nase ist jugendlich, er, zaghaft im Ansatz, der Sakko in unscheinbarem Schweizer-Braun, die Haare fangen an den Seiten schon etwas weiter hinten an, die Beine sind gekreuzt. Kneuss in der Sprechstunde, man ist dabei. Die 25 Liegestützen, “ein bisschen rassig und ohne zu mogeln” werden nur gelesen. Wo Artmanns ironischer Horror Anklang findet, da ist auch Platz für Brechbühls feingliedrig angelegten Kantonalwitz. Sein Hemd lässt Brechbühl zugeknöpft. Als er mit Kneuss im Genitalbereich verweilt, denke ich an einen Brechbühl-Satz: “Schreiben ist für mich der anstrengendste Arbeitsprozess, und der Denkvorgang, der oft ergiebiger ist als das Schreiben selbst, ist die beste Art, mit sich selbst und den andern umzugehen.”

Und dann ist schon Johnson an der Reihe. Ein Egghead, kahl geschoren, über schwarzer Nappa-Lederjacke tritt an. Uwe Johnson heißt für das Publikum: Gesine Cresspahl ist mit ein paar Geschichten aus ihrem Leben gegenwärtig. Johnson, Uwe – spätestens beim ersten Anblick ist die Versuchung “Schonsen” zu sagen da –, Jahrgang 1934, Pommer von Geburt, 1959 aus der DDR in den kapitalistischen Westen abgewandert, jener Doppeldeutsche also, der zeitweilig als “Dichter der deutschen Teilung” apostrophiert wurde, geht ans Pult. Er trägt vor in edlem Deutsch, das auf aparten Oxfordstil schließen lässt. Sonorig bewältigt er sein Stück deutsche Vergangenheit, deren letzten Abschnitt er als Elfjähriger erlebte. Jetzt ist er Büchnerpreisträger.

Er liest aus dem Leben der Gesine Cresspahl, die in Mecklenburg geboren, mit ihrer Tochter in New York lebt. Dort lebte auch Johnson einige Zeit. Und man merkt dies bald. Er liest aus diesem seinem jüngsten Werk, als habe er die New York Times aufgeschlagen, auf Seite drei, wo es üblicherweise unterhaltsamer wird.

Johnson trägt Auszüge vor. Die haben zuweilen Plauschcharakter, so, als handle es sich um Reminiszenzen von Heimatvertriebenen. Ein diffiziles Geflecht aus Namen und Schicksalen, aus Vorfällen und Mutmaßungen. Wer nicht gleich durchfindet, wer gar meint, Johnson sei – lasse man nun einmal den Büchnerpreis beiseite – ein Langweiler, der kann sich immer noch in seinem Stuhl zurücklehnen und ratlos sein.

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Hinter diesem “Impressum” steckt ein kluger Kopf, mit hoher Stirn und braunbehornter Brille, mit vorne lichtem Haar und schmalen Lippen, mit Grübchen dicht am Kinn und modisch messerscharfem Schnitt, ein bisschen Uwe Johnson nach erstem Hinschauen und dabei doch viel mehr. Hermann Kant ist Schriftsteller. 1926 in Hamburg geboren, nach Volksschule und Elektrikerlehre in den Krieg geschickt, von den Polen gefangen genommen, 1949 entlassen.

Viel Heinrich Heine hat er damals gelesen, doch was wichtiger war, er hat viel Zeit gehabt, nachzudenken über sich, die Vergangenheit, die Zukunft. Er kehrte nicht nach Hamburg zurück, in dem sich etablierenden Staat DDR begann sich für den Elektriker Kant eine neue Zukunft abzuzeichnen. Kant, in der DDR mit Heinrich-Heine-, FDGB- und Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet, mit blauem Hemd und dunklem Binder, gibt sich selbstsicher: “Na, dann wollen wir mal.”

Locker gehen ihm die Sätze über die Lippen. Er hat die Aktualität im Griff, er sichtet, sammelt ein, entdeckt, benennt, deckt auf; er liefert ab ein Päckchen mit tausendundeiner Anspielung. Er kommt direkt, nicht ohne Witz, simmelt bisweilen ein bisschen, kommt an, mit der Sprache und seinen Zuhörern zurecht. "Herr Kant", wird er gefragt, "warum schreiben Sie nicht, wie Hochhuth oder Weiss, einmal etwas über Dinge außerhalb der DDR?" Kant: "Ich finde die DDR erzählenswert genug."

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Da kommt sie: langgelbes Haar, belegte Stimme. Da ist sie: direkt und etwas freundlich und vernehmbar, auch aufnehmbar. Da schmunzelt man, so wie man bei Artmann schmunzeln würde. Da überdenkt man auch ein paar Momente, wie man bei Astel denken würde. Oder man sagt: “Nein, so nicht!”, wie es einem bei Günter Bruno Fuchs in den Sinn kommt.

“Ich würde gerne den Winkel messen zwischen Nase und Stirn.” Das sagt sie und greift sich ins Haar, mehr sicher und bewusst und gekonnt, als unsicher. Katrine von Hutten liest. Sie ist da. Sie trägt vor. Dass sie da ist, ist wichtig.

Katrine von Hutten, Jahrgang 44, geboren in Steinbach bei Lohr, bedacht mit dem Leonce-und-Lena-Preis 1969 – sie ist ihrer sicher. Das Belegte in ihrer Stimme wird zusehends sprachliches Mittel. Hinter dem Blumenstrauß auf der kleinen Ablage sind Manuskripte und andere Werke angehäuft. Mit “Masturbation” – einem Text – führt sie ein paar Zeilen lang über die Pisten der Lust. Brustspitzen straffen sich, erzählt sie. Ein paar Punkte später dann: die totale Abschlaffung. Sie gibt sich mutig. Vielleicht hat es gar “tatsch” gemacht. Sie berührt Arrabal oder auch Chotjewitz. Das genügt. Sie kommt aus der Enge, über einen Berg Banales zu etwas Treffenderem. Sie macht die Beine breit – so verlangt es ihr Text – zum Spagat. Katrine von Hutten hat Lust. Sie hat Lust, vorzulesen.